Student berichtet aus Tel Aviv: „Wo warst du heute Nacht? Wir haben dich im Bunker vermisst“

Der Konflikt zwischen Israel und Iran eskaliert. Wie erleben die Menschen vor Ort die Lage? Wir haben mit einem deutschen Austauschstudenten in Tel Aviv gesprochen.
Während es im Iran Bomben regnet, ist Israel von einer großangelegten Vergeltungsaktion bislang verschont geblieben. Offenbar hat die israelische Armee ihren Angriff auf das iranische Regime so vorbereitet, dass diesem vorerst kaum Möglichkeiten zum massiven Gegenangriff bleiben. Deswegen war es in Tel Aviv tagsüber relativ ruhig, wie Paul Diedrich berichtet, der dort gerade ein Austauschsemester absolviert. Jedoch mussten die Bewohner Tel Avivs am Morgen Luftschutzbunker aufsuchen.
Während des Telefonats mit ihm am frühen Abend hört man Vögel im Hintergrund. Es wirkt idyllisch. Nur wenige Minuten danach schreibt er: „Ich muss jetzt in den Bunker. Alarm wurde ausgelöst. Bin nicht mehr erreichbar.“ Bei dem abendlichen Angriff des Irans werden Dutzende Menschen verletzt, auch direkt über Diedrichs Campus werden Raketen abgefangen, detonieren am Himmel.
Herr Diedrich, von wo aus sprechen Sie gerade mit uns?
Ich befinde mich gerade in meinem Studentenappartement, gleich neben der Tel Aviv University im Norden von Tel Aviv. Um mich herum ist die Stimmung eigentlich recht friedlich. Vögel zwitschern, ein paar Leute spielen im Park und im Innenhof Fußball. Als ich vor zwei Stunden draußen war, gab es jedoch im kleinen Supermarkt neben der Universität kein Wasser mehr. Grundnahrungsmittel waren ausverkauft, da Leute sie bunkern.
Wie kann man sich die Atmosphäre vor Ort vorstellen?
Total relaxed, überhaupt nicht hektisch. Es ist natürlich deutlich leerer auf den Straßen. Ich fühle mich an den ersten Corona-Lockdown erinnert. Das betrifft aber nur den Norden von Tel Aviv. Freunde, die im Zentrum nahe einem populären Café wohnen, haben mir erzählt, dass da wieder viel los war, als die iranischen Drohnen abgeschossen worden waren. Man merkt, dass die Leute trotzdem rauswollen. Eigentlich wäre heute die Pride-Parade gewesen, das Stadtzentrum war darauf vorbereitet. Man lässt sich das Leben nicht vermiesen.

Was hat Sie nach Tel Aviv gebracht? Überlegen Sie, das Land zu verlassen?
Ich mache derzeit ein Auslandssemester an der Tel Aviv University und ich bin vorgestern erst von einem Kurztrip aus Wien zurückgekommen. Ich bin froh, dass ich noch ins Land reingekommen bin. Derzeit überlege ich nicht, Israel zu verlassen. Ich fühle mich hier sicher, die Bunker sind in der Nähe, ich weiß, dass die Luftabwehr und die israelische Armee alles dafür tun, dass hier nichts passiert. Mein Austausch geht noch bis Ende Juli und ich habe vor, bis dahin hierzubleiben.
Das heißt, Sie sind bereits in einer Kriegssituation im Land angekommen?
Genau. Ich habe mich aktiv dafür entschieden, nach Israel zu fahren, das Auslandssemester wahrzunehmen. Ich beschäftige mich mit Antisemitismus und nach dem 7. Oktober 2023 war es mir ein Anliegen, entgegen der internationalen Isolierung nach Israel zu kommen. Ich hatte mich darauf vorbereitet, dass es zu solchen Situationen wie jetzt kommen könnte. Es gab schon viele Luftalarme, auch wenn die jetzige Eskalation eine gänzlich andere ist.
Wie bereitet man sich auf so etwas vor?
Mental. Ich habe erst lange überlegt, ob es überhaupt gut ist, aus dem sicheren Deutschland in ein Kriegsgebiet zu reisen. Ich wusste, dass es für mich hart werden kann. Allerdings habe ich immer die Möglichkeit, das Land zu verlassen, wenn es wirklich schlimm ist. Das ist mein Luxus. Außerdem habe ich die verschiedenen Warnapps installiert.

Wie haben Sie die vergangene Nacht und den Morgen erlebt?
Ich habe verschlafen. Es gibt verschiedene Warnapps und ich hatte nur die für Raketenalarme aktiviert. Und ich trug Ohrstöpsel. Vorhin habe ich einen Kommilitonen auf der Straße getroffen, der gesagt hat: „Wo warst du heute Nacht? Wir haben dich im Bunker vermisst.“ Das darf nicht nochmal passieren. Bei Raketenalarm gehen wir ins Treppenhaus, aber das reicht nur für kleine Raketen. Bei dem, was jetzt erwartet wird, sollte ich in den großen Bunker gehen. Und ich habe jetzt alle Apps scharfgestellt sowie meinen Notfall-Rucksack mit Essen und Trinken gepackt, falls es schnell gehen muss.
Wie blicken die Menschen in Tel Aviv auf die kommenden Tage?
Eine Freundin, die seit September 2023 hier wohnt und den 7. Oktober miterlebt hat, erzählte, dass sie sich Sorgen macht. Die Ereignisse rufen traumatische Erinnerungen hervor, weswegen sie nahe an ihrem Haus und Bunkern bleibt. Was ich sonst mitbekomme, ist, dass man sich auf das Schlimmste vorbereitet, aber mit der typischen israelischen Gelassenheit.
Berliner-zeitung